Von der Straße in die Galerie

Eine Entdeckungsreise durch die Graffiti-Szene im Retronom Erfurt

Das Retronom in Erfurt hat viele Gesichter und wird von vielen Gesichtern der Thüringer Kunst- und Kulturszene geprägt. Die urbane Kunstgalerie, Bar und Kleinkunstbühne  befindet sich im pulsierenden Herz der Landeshauptstadt in der Johannesstraße. Sie bietet eine einzigartige Plattform für urbane Künstler:innen, die Jazz- und Hip-Hop-Kultur sowie Filmschaffende. Neben wechselnden Ausstellungen und regelmäßigen Konzerten dient das Retronom vor allem als Treffpunkt für den interkulturellen Austausch der jungen Erfurter Szene. Hier treffen Retrocharme und Zeitgeist aufeinander. Wir wollten mehr erfahren und haben uns mit dem freischaffenden Graffiti-Künstler Steve Seeger alias Dr. Hot getroffen. Er ist nicht nur langjähriges Vereinsmitglied des Retronom-Vereins Snokksen e.V., sondern auch Ideengeber und Mitorganisator der Kunstausstellungen vor Ort. Von ihm erfuhren wir mehr über das Konzept hinter dem besonderen Raum, der jungen Urban Artists eine Präsentationsfläche und einen Ort zum wertvollen Austausch bietet.

Graffiti-Künstler Steve Seeger alias Dr. Hot im Interview mit der THAK, Foto: THAK.

Das Retronom fördert lokale Kreative, darunter auch die der Graffiti-Szene – warum sind derartige Orte wichtig für die kreative Energie einer Stadt?

Das Retronom hat sich zu einem wichtigen Ort für die hiesige Kunst- und Kulturszene etabliert. Hier möchten wir vor allem jungen und noch verborgenen Talenten eine Plattform bieten, die sie in klassischen Galerieräumen so nicht bekommen würden. Dadurch können wir die vielen kreativen Köpfe der Stadt sichtbar machen, ihre Kunst in das Bewusstsein der Menschen bringen und die kreative Vielfalt fördern. Graffiti-Kunst ist zum Beispiel ein wichtiger Teil der lokalen Kunstszene und braucht neben der Straße und den Walls of Fame Experimentierräume, um sich auszuprobieren und zu entwickeln. Mit unseren Ausstellungskonzepten schaffen wir es, noch unentdeckte Artists von der Straße in die Galerie zu holen. Das Retronom hat es dadurch geschafft, eine Brücke zwischen der traditionellen Kunstsphäre und der urbanen Graffiti-Szene zu schlagen. In unseren Ausstellungen präsentieren wir aber auch abstrakte Malerei, Installationen und experimentelle Kunstformen. Hier machen wir die Vielfalt der hiesigen Kunstszene sichtbar.

Wie setzt ihr die Ausstellungsprojekte um?

Wir sind keine klassische Galerie und möchten das auch nicht sein. Wir sehen Kunst und Kultur immer in Verbindung mit Musik und dem Zusammenkommen verschiedener Menschen. Daher findet bei jeder Vernissage zwischen den Kunstwerken eine Party statt. Die Gäste tanzen miteinander oder diskutieren über die Werke. Durch die entspannte Atmosphäre ist es viel leichter, einem breiten Publikum den Zugang zur Kunst zu ermöglichen. Auch in Hinblick auf das künstlerische Konzept darf es im Retronom mal verrückt zugehen: Wir haben schon einige Urban-Art-Ausstellungen umgesetzt, zum Beispiel mit meinem Graffiti-Kollektiv TEAM MEMBERS, bei denen wir den kompletten Raum mit Boden- und Wandbemalungen gestalten konnten. Auch bei der Bildflächen-Reihe waren der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Hier waren von Malerei, über Fotografie, Skulpturales oder Installation verschiedene kreative Perspektiven zu bewundern. Neben den Gemeinschaftsausstellungen stellten bisher auch zahlreiche Solo-Künstler:innen wie beispielsweise Pit Nötzold, Dr. Molrok, Ruth Kroll oder Sarah Buchholz aus. Zudem versuche ich, auch Künstler:innen aus anderen Städten ins Retronom einzuladen, um den Austausch von Kreativen über die Grenzen Thüringens hinaus zu fördern. So hat sich bereits das Graffiti-Urgestein LOOMIT aus München zusammen mit seinem Künstlerkollegen BERT-MTA aus Weimar mit Ergebnissen der Werkstatttage zum “Tag der Deutschen Feinheit” im Retronom präsentiert. Auch dieses Jahr gab es auch wieder verschiedene Ausstellungen zu sehen, wie zum Beispiel von der Erfurter Malerin Lisa Pufahl zum Thema “F the Schema”.

Was ist für dich das Besondere an Graffiti-Kunst?

Mit 14 Jahren hielt ich zum ersten Mal eine Sprühdose in der Hand und seitdem hat mich Graffiti-Kunst nicht mehr losgelassen. Graffiti ist für mich weit mehr als nur eine Form der Rebellion, sondern auch individueller künstlerischer Ausdruck. Sie wird als Kunstform mehr und mehr gesellschaftlich akzeptiert und anerkannt. Die Stadt wird zur Leinwand, an der man seine Gestaltungsideen in die Welt kommunizieren kann. 

Im Retronom bekommt die Kunst des Graffiti einen legalen Raum, in dem sie sich entfalten kann. Hier werden technisch innovative und hervorragend gestaltete Werke präsentiert, die das Gesicht der Straße widerspiegeln. Für viele Künstler:innen wird die Galerie zur Möglichkeit, sich erstmals in diesem Kontext auf legales Graffiti zu konzentrieren. Natürlich gibt es auch einige Graffiti-Künstler:innen, die nicht daran interessiert sind, hier zu malen, da sie die wilde Kunst von der Straße nicht zähmen wollen, aber mindestens genauso viele, die den legalen Raum nutzen, um ihre Kunst und Person in den Vordergrund zu stellen und mit ihren Botschaften sichtbar zu werden.

Welches Konzept steckt hinter dem Ort?

Im Retronom ist der Name Programm: Unser Interieur ist von alten Möbeln aus den 60er und 70er Jahren geprägt, die wir zum Teil selbst restauriert haben. Zudem bieten wir neben einem kulturellen Programm mit lokaler Kunst- und Kulturschaffender bewusst viele regionale Produkte an der Bar an, wie das Freitagsbier von der Kleinbrauerei Freitag aus Erfurt, das Apoldaer Bier oder Neunspringer Limonaden aus Leinefelde-Worbis. Wir möchten zeigen, was die Region zu bieten hat – ob kulinarisch oder kreativ – und eine Atmosphäre schaffen, in der sich jede:r wohl und willkommen fühlt.

Im Retronom bekommt die Kunst des Graffiti einen legalen Raum, in dem sie sich entfalten kann, Foto: Retronom.

Wie gestaltet sich das Netzwerk rund um den Ort?

Hinter dem Retronom steht ein Netzwerk aus Kreativen der Kunst-, Musik- und Kulturszene Erfurts, die sich gegenseitig inspirieren und unterstützen. Da ist zum Beispiel Greatmade mit dem freischaffenden Illustrator und Gründer des Graphit e.V. Stefan Kowalczyk, der mit seinen Werken nochmal eine ganz eigene Perspektive auf die Kunstwelt einbringt und auch schon Teil einiger Ausstellungen war. Oder der Erfurter Künstler Dr. Molrok, der nicht nur mit seiner künstlerischen Expertise, sondern auch mit einer Vielfalt an Know-how den Laden bereichert. Auch Felix Schwager von OQ-Paint sorgt für frischen Input und hat maßgeblich an etlichen Galerieprojekten mitgewirkt. Dann sind da noch unsere Supporter:innen der hiesigen Clubszene, wie Benno Bounce, DJ und Initiator des Kicker Kellers, oder Hubert Langrock vom Kalif Storch, mit denen wir regelmäßig im Austausch und freundschaftlich verbunden sind. Kunst-Expertise zu unseren Ausstellungskonzepten erhalten wir von Monique Förster und Dirk Teschner vom Kunsthaus Erfurt. Das Kunsthaus hat auch aktiv dazu beigetragen, dass die junge lokale Kunstszene in unserer Galerie florieren konnte. Die Zusammenarbeit hat uns nicht nur organisatorisch voran, sondern auch neue Impulse in unsere Arbeit gebracht. 

Wie kann ich als Kreativschaffende:r den Ort mitgestalten?

Wir machen jedes Jahr einen Open Call für eine größere Gruppenausstellung, bei der man sich bewerben, seine Kunst in der Galerie präsentieren und seine Ideen zeigen kann. Außerdem haben wir für Musiker:innen die Reihe “Leere Teller“ gestartet, eine Open-Decks-Soli-Party-Reihe im Retronom, bei der alle Erlöse des Abends für wohltätige Zwecke an die Rote Hilfe Erfurt gehen. DJ’s können ihre Lieblingsmusik mitbringen, im Retronom auflegen und zusammen mit den Gästen die Solidarität feiern. Alle Ausstellungen, Konzerte und Aktionen werden von uns mit viel Herzblut geplant und sorgfältig kuratiert. Doch nicht nur Künstler:innen können im Retronom mitwirken – auch alle anderen, die die lokale Szene mitgestalten wollen, sind herzlich eingeladen, dem Verein des Retronoms, dem Snokksen e.V. beizutreten. Im Verein können sie mit uns gemeinsam Konzerte und Veranstaltungen organisieren, die die Stadt und somit die Region bereichern. Momentan besteht das Team aus circa 20 aktiven Mitgliedern und einem breiten Netzwerk aus Unterstützer:innen. Ohne diese Menschen wäre vieles nicht möglich gewesen. Zusammen schaffen wir eine lebendige Musik- und Kunstszene, die von der Vielfalt unserer Mitglieder lebt. Kommt also vorbei und entdeckt die kreative Energie, die im Retronom pulsiert!

Kontakt

Retronom (Snokksen e.V.)
Johannesstraße 17a
99084 Erfurt
www.retronom.net
Instagram: @retronom_erfurt

THAK Tipp:

Nach der Sommerpause öffnet das Retronom am 21. September 2024 ab 19.00 Uhr wieder seine Pforten. Unter dem Titel „Retronom Hills“ haben sie in Zusammenarbeit mit der Fakultät Kunst der Uni Erfurt eine Ausstellung konzipiert.

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