Vom Leerstand zur lebendigen Begegnung

Das Kulturhaus Neukirchen

Als das Kulturhaus Neukirchen 2022 durch die Folgen der Pandemie vor dem Aus stand, wurde aus Sorge um Erinnerungen eine Idee – und schließlich eine Bewegung. Was mit einer kleinen Interessengemeinschaft begann, entwickelte sich innerhalb eines Jahres zu einem bürgerschaftlichen Projekt: der Gründung der Kulturhaus Neukirchen eG. Mit viel Engagement, Unterstützung aus Politik und Stadtverwaltung und dem Mut, Neues zu wagen, ist aus einem bedrohten Gebäude ein Symbol für Zusammenhalt und ländliche Lebensqualität geworden. Im Interview mit Genossenschaftsmitglied Jessika Fichtel erfuhren wir mehr über die Mehrwerte der Wiederbelebung für die Dorfgemeinschaft, was es braucht, um solch ein Projekt erfolgreich zu machen und wie die Genossenschaft das geschichtsträchtige Haus mit neuen Formaten füllt.

Das Kulturhaus in Neukirchen.

Jessika, was hat dich persönlich motiviert, dich für den Erhalt des Gebäudes einzusetzen?  

Das Kulturhaus liegt in meinem Heimatort – einem kleinen, fast gallischen Dörfchen, das zu Eisenach gehört. Das Kulturhaus Neukirchen gibt es schon deutlich länger als ich lebe und es war für mich – wie für viele andere hier – immer ein fester Bestandteil des Dorflebens. Von klein auf habe ich dort Familienfeiern, Konzerte, die Kirmes erlebt. Fast jede:r aus Neukirchen verbindet persönliche Erinnerungen mit diesem Ort. Das war für mich einer der größten Antriebe, das Kulturhaus zu erhalten, als sein Fortbestehen 2022 plötzlich auf der Kippe stand.

Heute kümmere ich mich um die Öffentlichkeitsarbeit und das Marketing: von der Website und Social Media über Programmhefte bis zu Flyern und Anzeigen im Amtsblatt. Dabei bin ich nur ein Teil eines großen, engagierten Teams. Wir sind keine Einzelkämpfer:innen, sondern eine starke Community, rund 60 aktive Mitstreiter:innen aus einem Ort mit gerade einmal 500 Einwohner:innen und ein paar Unterstützer:innen aus dem Umland. Für mich persönlich ist das nicht nur ein Herzensprojekt, sondern auch eine Aufgabe, an der ich ständig wachse.

“Das Kulturhaus ist mehr als Beton und Balken – es ist ein Ort der Begegnung und der Identität. Dass wir damit so viel im Dorf bewegt haben, motiviert uns alle, weiterzumachen.“

Die Gründungsmitglieder des Kulturhaus Neukirchen.

Welche Formate und Nutzungskonzepte habt ihr seit der Rettung des Kulturhauses entwickelt und wie gelingt der Spagat zwischen der Bewahrung der Geschichte und der Öffnung für neue Formate?

Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen privater und öffentlicher Nutzung. Das Kulturhaus wurde 1976 mit dem Auftrag an die Öffentlichkeit übergeben, Raum für Familienfeiern, Vereinsleben und die dörfliche Kirmes zu bieten – eine Tradition, die sich über Jahrzehnte gehalten hat. Es ist großartig, dass das Haus nie lange leer stand und baulich in einem soliden Zustand war, als wir es übernommen haben. Das hat uns den Einstieg enorm erleichtert.

Heute bieten wir weiterhin klassische Nutzungsmöglichkeiten als Raum für Feiern und Hochzeiten, aber wir probieren auch bewusst neue öffentliche Formate aus. Unser großer Saal fasst bis zu 400 Gäste – da ist von Konzerten über Lesungen bis hin zu Theater alles möglich. In der Kneipe setzen wir zusätzlich auf kleine Veranstaltungen wie Improtheater und Hutkonzerte, um Thüringer Künstler:innen eine Bühne zu geben. Gern darf es auch mal experimentell werden, wenn wir zum Beispiel einen Schnapsbrenner einladen. Wichtig ist uns dabei: Alles passiert professionell mit Künstler:innenverträgen und klaren Abläufen, aber auf rein ehrenamtlicher Basis. Wir freuen uns auch immer über Anfragen aus der Kultur- und Kreativszene und schauen, was in unseren Kalender und unsere Kapazitäten passt.

Der Spagat zwischen Tradition und neuen Ideen gelingt uns, weil wir beides ernst nehmen: die Geschichte des Hauses und die Bedürfnisse einer modernen, lebendigen Dorfgemeinschaft. Unsere Genossenschaft und der Förderverein geben uns den organisatorischen Rahmen, aber der wahre Motor ist unsere Community. Auch viele ältere Menschen finden hier eine sinnstiftende Aufgabe, treffen andere, bringen sich mit Herzblut und Expertise ein. Ob jung oder alt: Das Kulturhaus Neukirchen ist für viele ein sozialer Ankerpunkt und genau das macht seine besondere Stärke aus.Unser Ziel ist es, möglichst viele Menschen mit unterschiedlichsten Formaten zu erreichen: Veranstaltungen mit bekannten Namen wie Jutta Speidel, generationsübergreifende Aktionen wie gemeinsames Plätzchenbacken oder ein Mitbring-Brunch sowie unser wöchentlicher Mathetreff, bei dem ein pensionierter Lehrer Schüler:innen beim Lernen unterstützt – dieses Angebot ist inzwischen sogar über Neukirchen hinaus gefragt.

„Aufbruch bedeutet nicht immer Neubau, sondern auch die Chance, Altem neues Leben einzuhauchen und das Beste aus dem Vorhandenen zu machen“

Wie bindet ihr die Menschen vor Ort konkret ein?  

Von Anfang an war klar: Dieses Projekt kann nur funktionieren, wenn viele mitmachen und genau das spiegelt sich auch in unserem Ansatz wider. Wir setzen stark auf Community-Building und haben früh WhatsApp als zentrales Kommunikationsmedium etabliert. Da fast alle Generationen die App nutzen, war die Einstiegshürde niedrig. Es gibt unterschiedliche Teams, etwa für Reinigung oder Ausschank, und wir gehen ganz bewusst mit dem Verständnis ran, dass alle neben dem Kulturhaus noch ihr eigenes Leben führen. Diese Flexibilität schafft Vertrauen und Verlässlichkeit.

Das Kulturhaus Neukirchen war schon immer ein Gemeinschaftsprojekt. Es wurde in den 1970er Jahren von den männlichen Dorfbewohnern erbaut und dieses Bewusstsein ist bis heute spürbar. Viele Menschen haben eine emotionale Verbindung zum Haus und dieser Herzblut-Faktor macht viel aus. Gleichzeitig ist das Projekt auch ein wunderbarer Andockpunkt für neue Leute im Ort: Wer Lust hat, mitzumachen, wird mit offenen Armen empfangen. Das fördert das Ankommen und stärkt das Dorfleben.

Wir sind grundsätzlich offen für jede:n, der/die sich einbringen möchte – mit Zeit, Ideen oder Fähigkeiten. Nicht nur an den Veranstaltungswochenenden, sondern auch unter der Woche gibt es viele Möglichkeiten zur aktiven Mitgestaltung. Dabei ist uns wichtig, dass sich alle an unserem Wertekompass orientieren: respektvoll, tolerant und gemeinschaftlich. Unser Motto lautet: Füreinander miteinander!

Das Kulturhaus Neukirchen – einst von Dorfbewohnern erbaut, heute ein lebendiger Treffpunkt für Gemeinschaft und neue Ideen.

Was zeigt das Kulturhaus-Projekt bezüglich des Potenzials ländlicher Räume – besonders in Zeiten von Abwanderung und Strukturwandel? 

Das Projekt schafft echte Teilhabe. Jede:r bringt sich mit dem ein, was er oder sie kann und fühlt sich gehört, gebraucht und befähigt. Diese Form von Selbstwirksamkeit, Wertschätzung und Gemeinschaft ist nicht nur ein Gegenmodell zur Landflucht, sondern zeigt, wie lebendig, modern und attraktiv ländliche Räume sein können, wenn man ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung gibt.Damit das langfristig funktionieren kann, investieren wir derzeit alles, was wir einnehmen, in die Sanierung des Gebäudes. Über das LEADER-Programm können wir Projekte wie die Deckendämmung im Saal fördern lassen, bald folgen Fenster und Dach. Unser Ziel ist es, das Haus energetisch auf Vordermann zu bringen und perspektivisch bezahlte Stellen zu schaffen. Denn wenn wir den Ort mit Leben füllen wollen, brauchen wir auch eine nachhaltige wirtschaftliche Basis.

Welche Vision habt ihr für das Kulturhaus Neukirchen in fünf Jahren?  

In fünf Jahren ist das Kulturhaus Neukirchen als lebendiges, kulturelles Zentrum in der Region fest verankert ist – bekannt für seine vielfältigen Veranstaltungen und seine besondere Atmosphäre. Unsere Vision ist, dass Kultur wieder ganz selbstverständlich Teil des Dorflebens ist: fußläufig erreichbar, generationsübergreifend und offen für die Menschen aus Neukirchen und den umliegenden Dörfern.

Wir wollen die Lebensqualität in der Region durch niedrigschwellige Angebote, echte Begegnungen und kreative Formate nachhaltig steigern. Natürlich könnte man darauf warten, dass jemand anders etwas auf die Beine stellt. Aber wir haben uns entschieden, selbst aktiv zu werden. Es ist nicht immer leicht, doch wenn man sieht, was entsteht, wenn Menschen gemeinsam anpacken, dann weiß man: Es lohnt sich. Und vielleicht wird unser Projekt sogar zum Vorbild für andere Orte, die ebenfalls neu durchstarten wollen.

Beim Regionalstammtisch.

Wie wichtig ist es, solche Netzwerke und Modelle weiterzudenken und auf andere Orte zu übertragen?  

Aus unserer Sicht sehr wichtig. In enger Partnerschaft mit der Stadt Eisenach haben wir im März einen ersten Regionalstammtisch organisiert, zu denen wir Vertreter:innen aus dem gesamten Wartburgkreis eingeladen haben. Die Resonanz war großartig. Weitere Treffen dieser Art sollen folgen, denn sie bieten eine wertvolle Gelegenheit, voneinander zu lernen.

Dass Austausch von großer Bedeutung ist, wissen wir aus erster Hand, denn ein Projekt, das uns selbst von Anfang an inspiriert hat, ist der “Grüne Baum“ in Steinbach – eine Genossenschaft aus lokalen Unternehmern, der Stadt Bad Liebenstein und einem Kreditinstitut, die sich zusammengeschlossen haben, um die Dorfmitte Steinbachs als Begegnungsort zu beleben und regionale Produkte aus dem Thüringer Wald zu vermarkten. Das Wissen und die Erfahrungen, die wir dort gewonnen haben, möchten wir nun weitergeben.

Interessierte können uns jederzeit ansprechen, wenn sie mehr über unser Modell erfahren möchten. Denn: Mit einer guten Grundstruktur und kreativen Ideen kann man einem alten Gebäude mit kleinen Veränderungen neuen Schwung verleihen!

Kontakt
Jessika Fichtel
jessika@kulturhaus-neukirchen.de
www.kulturhaus-neukirchen.de 

Kommende Veranstaltungen
19. April 2025: Hutkonzert mit Basement Heroes
03. Mai 2025: Konzert mit B6 Blues & Rock
10. Mai 2025: Newchurch Rocknight
20. September 2025: Konzert mit Ingo Boogie & The Backbeat 5‘s
09. Oktober 2025: Lesung mit Jutta Speidel
25. Oktober 2025: Theater im Palais Erfurt
13. November 2025: GlasBlasSing Show
12. September 2026: Comedy mit Jonas Greiner
jeden letzten Freitag im Monat: Stammtisch

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