Wissen spielerisch vermittelt

Im Interview mit Henry Holland-Moritz

Dr. Henry Holland-Moritz ist Physiker und Dozent an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Eigentlich wollte er etwas ganz anderes werden, nämlich Comiczeichner. Schon früh wurde er von seinem Urgroßvater ans Zeichnen herangeführt – ein altes gemeinsames Skizzenbuch besitzt er bis heute. In seiner Jugend prägten Graffiti, Street Art und Comics seine kreative Welt. Doch die Familie riet ihm eher zu einem “sicheren“ Berufsweg. So begann er zunächst ein Maschinenbaustudium, das er jedoch bald abbrach. Die Leidenschaft für Mathematik und Physik brachte ihn schließlich nach Jena, wo er sein Studium und die Promotion absolvierte. Parallel dazu fand er zurück zum Zeichnen: zunächst in kleinen Illustrationen für die Lehre, später ganz bewusst als didaktisches Werkzeug. Heute verbindet Henry Holland-Moritz seine Begeisterung für Popkultur, Naturwissenschaft und Illustration in Vorlesungen, bei Science Shows, in Schulen, in Beiträgen für MDR Wissen und in einem Wissenschaftspodcast. Sein Credo: Lernen gelingt am besten, wenn Wissen spielerisch vermittelt wird.

Zwischen Physik und Popkultur: Dr. Henry Holland-Moritz verbindet seine Leidenschaft für Wissenschaft und Illustration und macht komplexe Themen mit Zeichnungen und Comics spielerisch verständlich, Foto: Katharina Keller.

Du arbeitest in deiner Lehre mit Illustrationen und spielerischen Elementen. Warum ist dir dieser Ansatz so wichtig?

Ich unterrichte Physik im Nebenfach, das heißt, viele meiner Studierenden haben mit Physik eigentlich gar nichts am Hut. Da sitzen zum Beispiel angehende Optomestristinnen oder Physiotherapeuten, die eher etwas Medizinisches machen wollen, aber auf keinen Fall Physik studieren möchten. Viele bringen deshalb von Anfang an eine gewisse Skepsis oder sogar Angst mit und genau das kenne ich noch aus meiner eigenen Schulzeit. Physik wirkt für viele wie ein trockenes Fach, zu dem man schwierig Zugang findet. Mir ist es wichtig, diese Hürde aufzubrechen. Deshalb arbeite ich in meinen Lehrveranstaltungen mit Illustrationen und spielerischen Elementen. So bekommt Physik eine neue Verpackung und wirkt weniger trocken. Da meine Studierenden im Nebenfach nicht zu tief in die Materie einsteigen müssen, habe ich außerdem die Freiheit, Inhalte zu reduzieren und mehr Alltagsbezüge herzustellen. Genau dort kann ich kreativ werden und zeigen, wie spannend Physik sein kann, wenn man sie anders vermittelt.

Inwiefern können künstlerische Ausdrucksformen dabei helfen, wissenschaftliche Inhalte nicht nur verständlich, sondern auch emotional erfahrbar zu machen?

Das Zusammenspiel von Physiker und Illustrator eröffnet mir eine ganz eigene Perspektive auf die Welt. Während Physik oft darin besteht, reale Probleme in eine abstrakte mathematische Sprache zu übersetzen, ermöglicht mir die künstlerische Herangehensweise, diese Abstraktion aufzubrechen und neue Zugänge zu schaffen. Durch Zeichnungen kann ich komplexe Modelle anschaulicher machen und Studierenden eine andere, oft intuitivere Sichtweise eröffnen. Gleichzeitig erweitert die Kunst auch meinen eigenen Zugang zur Physik, da sie mir erlaubt, Inhalte nicht nur formal, sondern auch ästhetisch und erzählerisch zu begreifen.
Dieses Wechselspiel hat dazu geführt, dass ich insgesamt mehr zeichne, nicht nur privat im Skizzenbuch, sondern auch öffentlich, indem ich meine Werke teile, an Kursen teilnehme und mit Illustrationen auf die Bühne gehe. So bleibt die Kunst ein gleichwertiger Teil meines Schaffens, auch wenn ich hauptberuflich Physiker bin.

Woher nimmst du die Inspiration für deine Illustrationen und Geschichten?

Meist gibt es ein Thema für eine Vorlesung oder Übung, zu dem in den Lehrbüchern sehr einfache Beispiele vorgeschlagen werden – etwa eine Kiste, die gezogen wird, oder ein Auto, das einen Berg hoch fährt. Ich versuche dann, diese abstrakten Szenarien in eine künstlerische Richtung zu übersetzen. Dabei entwickle ich Figuren, belebe Dinge und schaue, wie ich sie so darstellen kann, dass sie für Studierende lustig, greifbar und sympathisch wirken. Inspiration hole ich mir dabei auch von anderen Comiczeichnenden. Am Ende entsteht eine kleine Geschichte, die sich an Alltagssituationen orientiert und dadurch leichter im Gedächtnis bleibt.

Mein Ziel ist es, unbelebte Natur in belebte Figuren zu verwandeln: Elektronen mit Augen oder Atomkerne, die plötzlich ein Gesicht haben. Fachlich ist das natürlich nicht korrekt, aber es geht mir nicht darum, die Fachphysikerinnen und -physiker zu erreichen, sondern diejenigen, die ein solides Basiswissen brauchen. Der Comic ist dafür ein ideales Stilelement, weil er für alle Zielgruppen funktioniert.

Physik ist zwar mein Fach, aber ich verstehe meine Arbeit auch in einer gesellschaftlichen Dimension: Comics sind für mich eine innovative Form der Wissenschaftsvermittlung. Sie helfen, Wissenschaft nahbarer zu machen, Skepsis abzubauen und ihr eine neue Wertigkeit zu verleihen. So wird Physik wieder spannend! Nicht als trockene Theorie, sondern als Werkzeug, um die Welt besser zu verstehen.

„Comics sind für mich eine innovative Form der Wissenschaftsvermittlung – sie machen Physik wieder spannend und geben ihr eine neue Wertigkeit“

Wie lässt sich die Begeisterung der Studierenden, die durch kreative Materialien und spielerische Ansätze in der ersten Vorlesung geweckt wird, langfristig aufrechterhalten?

Die Studierenden schätzen meine Lehrweise sehr und geben regelmäßig positives Feedback. Schon in der ersten Vorlesung versuche ich, durch eine “Motivationsvorlesung” mit vielen Illustrationen und Beispielen Interesse zu wecken. Dabei frage ich die Studierenden zunächst nach ihrer Einstellung zur Physik, die oft eher negativ ist. Umso wichtiger ist es, dass die erste Rückmeldung fast immer sehr positiv ausfällt: Die Studierenden loben den lockeren Stil, den Spaßfaktor, das moderne Erscheinungsbild der Materialien und insbesondere die selbst erstellten Zeichnungen. Im Gegensatz zu vielen Kollegen und Kolleginnen, die Bilder aus Lehrbüchern oder dem Internet verwenden, entwickle ich meine Materialien eigenständig. Das hebt mich nicht nur ab, sondern stößt auch im Kollegium auf Anerkennung. Insgesamt geht es mir darum, von klassischen Lehrformen wie Overhead-Projektoren und reiner Frontalvorlesung wegzukommen und moderne Methoden wie Peer Instruction, Just-in-Time Teaching und Diskussionen stärker einzubeziehen. Damit knüpfe ich an eine wachsende Bewegung in meinem Fachbereich an, in der junge Lehrende verstärkt auf interaktive und aktivierende Lehrkonzepte setzen.

Wie schaffst du es, Kunst auch außerhalb der Hochschule in Wissenschaft und Öffentlichkeit einzubringen?

Über Science Slams und öffentliche Vorträge, wo ich Wissenschaft populär und unterhaltsam präsentiere, bin ich zum MDR gekommen. Dabei habe ich auch an einem YouTube-Format teilgenommen, in dem ich wissenschaftliche Inhalte anfangs über eigene Illustrationen und mit einem popkulturellen Ansatz vermittelt habe. Einige dieser Zeichnungen nutze ich später sogar für meine Vorlesungen oder für Instagram. Dabei geht es für mich immer um die Frage: Wie erzähle ich eine Geschichte so, dass sie mehr ist als nur eine Aneinanderreihung von Fakten?

Darüber hinaus trete ich bei Vorträgen auf, gestalte Poster und Postkarten, die ich auch verkaufe. Für die Firma Zeiss habe ich eine Präsentation für die Lange Nacht der Wissenschaften in Jena illustriert und animiert, die ein neuartiges Projektorprinzip allgemeinverständlich erklärt und eine Mitmachstation für Kinder begleitete.

Ich habe auch angefangen, Wissen mit Hilfe kleiner Zines zu vermitteln. Das sind kleine gefaltete Hefte, in denen man sechs Seiten zur Verfügung hat, eine Geschichte zu erzählen oder Informationen zu transportieren. 

In welchen Netzwerken bist du unterwegs?

In Erfurt nehme ich regelmäßig an einer Zeichenrunde teil, bei der ich mit Leuten wie Ole Bechert, Johannes von Havranek und Stefan Kowalczyk zusammenkomme. Diese Treffen geben mir nicht nur Austausch, sondern auch Inspiration und neue Impulse. In Jena habe ich außerdem einen engen Kontakt zu Christopher Georg, mit dem ich regelmäßig im Kassablanca in Jena einen Aktzeichnenkurs veranstalte. Er zeichnet mit einer Präzision und Tiefe, die an alte Meister erinnert und durch die Kunstkurse von Brain Knox, die wir gemeinsam besucht haben, haben wir eine gemeinsame Basis, die uns verbindet. Darüber hinaus schätze ich auch den Austausch mit Johannes Kretzschmer, der wie ich aus der Wissenschaft kommt, aber ebenfalls Comics zeichnet. 

Diese Netzwerke bringen unterschiedliche Perspektiven zusammen – von klassischer Kunstpraxis bis hin zu Comic-Illustration – und sie motivieren mich, dranzubleiben und mich stetig weiterzuentwickeln.

Du nutzt deine Reichweite, ob im Hörsaal oder auf Social Media, auch bewusst, um demokratische Werte wie Vielfalt sichtbar zu machen. Wie gelingt es dir durch Kreativität Haltung zu zeigen?

Für mich ist klar: Kreativität ist nie neutral, sondern immer mit einer Haltung verbunden. Jede Illustration, jeder Comic, jeder Sticker transportiert eine Botschaft, die bei den Menschen etwas auslösen kann – manchmal ganz bewusst, oft aber auch unterschwellig. Deshalb sehe ich es als meine Verantwortung, diese Reichweite sinnvoll zu nutzen und relevante Werte zu vermitteln. Wenn ich Vielfalt positiv darstelle, dann ist das nicht nur ein ästhetisches Mittel, sondern ein klares Statement für ein demokratisches Miteinander.

Wichtig ist mir dabei eine Bildsprache, die offen und spielerisch wirkt. Meine Zeichnungen orientieren sich oft an Kinderbuchillustrationen: schlicht, farbenfroh, freundlich. Auch wenn es um ernste Themen wie Rassismus oder rechte Parteien geht, möchte ich, dass meine Arbeiten einladen, statt abzuschrecken. Humor hilft dabei enorm: Ein süßer Hund, der eine rechte Parteifahne frisst, oder ein Videospiel-Motiv, in dem ein Feuerball auf ein Parteisymbol geschleudert wird. Das sind klare Botschaften, aber sie sind verpackt in etwas Positives, das Menschen anspricht.

Gerade weil rechte Strömungen aktuell wieder so präsent sind, halte ich es für wichtig, alternative Bilder zu schaffen, die spielerisch und hoffnungsvoll sind. Ich möchte zeigen, dass man Vielfalt feiern kann und dass es andere Visionen für unser Zusammenleben gibt als die, die von Ausgrenzung und Angst geprägt sind.

Und natürlich hat auch meine Funktion als Dozent einen wesentlichen Einfluss. Viele meiner Studierenden kommen aus unterschiedlichen Ländern und erzählen mir von Erfahrungen mit Diskriminierung oder abwertenden Bemerkungen. Das macht mich wütend und es bestärkt mich darin, Demokratie nicht nur in meiner Kunst sichtbar zu machen, sondern auch im Hörsaal dafür einzustehen. Als Lehrender habe ich eine Vorbildfunktion. Studierende nehmen wahr, wie ich über Dinge spreche, welche Projekte ich unterstütze und welche ich bewusst ablehne. Für mich gehört es deshalb dazu, sie für diese Themen zu sensibilisieren und ihnen zu zeigen: Vielfalt ist keine Bedrohung, sondern eine enorme Bereicherung für die Wissenschaft, für Thüringen, für die Stadt Jena und für die Gesellschaft insgesamt.

Kontakt
Instagram: @dr.henry.illustrates
Mail: henry.holland-moritz@eah-jena.de

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