Digitale Barrierefreiheit als neuer (alter) Standard

Im Interview mit Enrico Göbel

Enrico Göbel arbeitet seit mehr als 15 Jahren mit Menschen mit Behinderungen. Als Torwart und Trainer der Blindenfußball-Nationalmannschaft und von Borussia Dortmund hat er viele Länder bereist und an über 100 Länderspielen teilgenommen. Der Sport bringt sehende und blinde Menschen zusammen und zeigt, welche einzigartigen Leistungen möglich sind, wenn man gemeinsame Sache macht. Die Wahrnehmung und das strukturierte Denken von Menschen mit Behinderungen ist oft beeindruckend. Neben seiner sportlichen Tätigkeit und einem Lehrauftrag an der Universität Würzburg, ist Enrico Göbel Ansprechpartner und Verantwortlicher für digitale Barrierefreiheit bei der Landesfachstelle für Barrierefreiheit in Thüringen. Im Gespräch erhielten wir Einblicke in die Anforderungen an digitale Barrierefreiheit, welche Chancen sie für alle Menschen bietet und welche Bedeutung das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz für Kreative und Unternehmen hat, welches im Juni 2025 in Kraft treten wird.  

Foto: Mario Hochhaus

Inklusive Gestaltung und ihr Beitrag zu einer digitalen Welt

Digitale Barrierefreiheit ist für Menschen mit Behinderungen unentbehrlich. Allerdings profitieren auch alle anderen von barrierefreien Designs und Anwendungen. Barrierefreiheit muss als Qualitätsmerkmal einer älter werdenden Gesellschaft verstanden werden. Menschen möchten am Leben teilhaben, egal welchen Alters, Geschlechts, mit oder ohne Behinderung. Kreative spielen hierbei eine wichtige Rolle, denn sie stellen die Nutzenden ins Zentrum und berücksichtigen dabei die verschiedenen Anforderungen – ohne dabei ein gutes Design und die Ästhetik aus den Augen zu verlieren. Ob es um mobile Anwendungen, Dokumente, Websites oder Geräte wie Geldautomaten und Fernseher geht, Barrierefreiheit ermöglicht es jedem, digitale Produkte ohne fremde Hilfe, zu jeder Zeit, ohne zu hohen zusätzlichen Zeitaufwand und dem gleichen Ergebnis zu nutzen. Gute Beispiele dafür sind Untertitel in Videos, die ursprünglich für Gehörlose entwickelt wurden, mittlerweile aber in den meisten Videos zu finden sind, da sie oft ohne Ton abgespielt werden oder die Autovervollständigung. Sie hilft Menschen mit motorischen Einschränkungen eine adäquate Schreibgeschwindigkeit zu erreichen und ist mittlerweile in jedem Smartphone integriert. Und auch Webseiten mit gutem Kontrast lassen sich unter Umständen auch bei Sonneneinstrahlung noch auf dem Bildschirm erkennen.

Digitale Barrierefreiheit: Schlüsselrolle in SEO, KI und Fachkräftegewinnung

Wenn es um Themen wie Suchmaschinenoptimierung (SEO), Künstliche Intelligenz (KI) und Fachkräfte geht, denkt man nicht sofort an digitale Barrierefreiheit. Sie spielt jedoch eine entscheidende Rolle.

Ein Arbeitsplatz für Menschen mit Sehbehinderung kann eine Braillezeile, eine Sprachausgabe – meist über Kopfhörer – und eine sehbehindertengerechte Tastatur umfassen. In aller Regel kommt eine Vorlesesoftware zum Einsatz, ein sogenannter Screenreader. Damit werden Bildschirminhalte vorgelesen oder in Blindenschrift umgewandelt, so dass die Benutzenden eine Webseite Zeile für Zeile erfassen können. Solche Software existiert auch auf Smartphones und ermöglicht es, blinden Menschen Webseiten und Apps zu nutzen. Um die Wirksamkeit des Screenreaders zu gewährleisten, sind beispielsweise gut strukturierte Daten erforderlich, einschließlich einer klaren Hierarchie von Überschriften und aussagekräftigen Alternativtexten für Bilder. SEO funktioniert ähnlich – je besser die Daten strukturiert sind, desto höher sind die Chancen auf eine gute Platzierung in Suchmaschinen. Die Optimierung für Suchmaschinen fördert also automatisch die digitale Barrierefreiheit oder umgekehrt. Es ist möglich, beide Ziele mit einer Strategie zu erreichen, die auch wirtschaftliche Vorteile für Unternehmen bietet. Digitale Barrierefreiheit erweitert nicht nur die Reichweite von Websites, sondern verbessert auch die Usability für alle.

Auch KI-Tools werden zunehmend eingesetzt, um Inhalte vorzulesen oder zusammenzufassen. Es gibt inzwischen Anwendungen, die Interaktionen analysieren und entsprechende Anpassungen für barrierefreie Designs vorschlagen. Auch hier gilt, dass gut strukturierte Daten und Informationen für eine erfolgreiche Anwendung und Verarbeitung entscheidend sind. Andernfalls kann die KI sie nicht richtig interpretieren und lesen.

Angesichts des Fachkräftemangels ist es wichtig zu bedenken, dass einige potenzielle Mitarbeitende aufgrund fehlender Barrierefreiheit am Arbeitsplatz möglicherweise nicht (vollständig) beschäftigungsfähig sind. Dazu gehören sehbehinderte, die auf spezielle Geräte wie eine Braillezeile angewiesen sind, genauso wie Menschen mit motorischen Einschränkungen, für die es an zugänglicher Software mangelt. Während seiner Zeit als Ausbilder hat Enrico Göbel aktiv dazu beigetragen, sehbehinderte und blinde Fachinformatiker:innen und Anwendungsentwickler:innen auszubilden. Menschen, die von Geburt an blind sind, entwickeln eine sehr strukturierte Denkweise, die es ihnen ermöglicht, wertvolle Beiträge zu Problemlösungen zu leisten. Dies zeigt sich eindrucksvoll an dem Beispiel, dass die Auszubildenden auch noch nach Wochen komplexe Datenbanken detailliert wiedergeben konnten. Für sie ist es eine Selbstverständlichkeit, ihren Alltag zu strukturieren, um ihn effektiv zu bewältigen. Gerade bei der Erstellung abstrakter Datenbanken und im Backend sind diese Fähigkeiten ungemein hilfreich.

Die Landesfachstelle: Hauptbereiche, Beratungsnetzwerk und Förderungen

Die Landesfachstelle für Barrierefreiheit gliedert sich in drei Hauptbereiche: Bauen und Wohnen, Mobilität und Verkehr, Kommunikation und digitale Barrierefreiheit. Sie hat die Aufgabe, zu beraten, zu schulen und zu vermitteln. Diese Dienstleistungen stehen Vereinen, Behörden, Verbänden, Unternehmen und Privatpersonen in ganz Thüringen zur Verfügung. Zusätzlich fungiert die Landesfachstelle auch als Durchsetzungsstelle bei Verstößen gegen die Barrierefreiheitsstandards. Betroffene können sich an sie wenden und es wird dann versucht, eine außergerichtliche Streitbeseitigung zu erreichen, in dem die Mängel an die betroffene Stelle kommuniziert und Lösungen besprochen werden. 

Foto: Enrico Göbel

Um den Bedarf an Beratung und Unterstützung flächendeckend anbieten und abdecken zu können, soll ein umfassendes Beratungsnetzwerk für den Bereich digitale Barrierefreiheit aufgebaut werden. Dieses soll sicherstellen, dass das Wissen in die Breite getragen wird und die gesetzlichen Anforderungen erfüllt werden. Neben der Landesfachstelle soll das Netzwerk in Fragen der digitalen Barrierefreiheit beraten. Das bedeutet, dass nach dem Erstkontakt eines Ratsuchenden mit der Landesfachstelle ein Mitglied aus dem Netzwerk empfohlen wird, mit dem eine geförderte Erstberatung stattfindet, die in eine weitere Zusammenarbeit münden kann. Es ist geplant, dass sich das Netzwerk regelmäßig trifft und über Erfahrungen austauscht. So wird sichergestellt, dass das Wissen geteilt wird und die gesetzlichen Anforderungen eingehalten werden. Interessierte Auftragnehmende aus der Kreativwirtschaft können sich an die Landesfachstelle wenden, sofern sie Wissen oder Referenzen im Bereich der digitalen Barrierefreiheit nachweisen können. Darüber hinaus wurde das ThüBaFF (Thüringer Barrierefreiheitsförderprogamm) verstetigt, wodurch Projekte und Vorhaben mit barrierefreier Ausrichtung und inklusivem Schwerpunkt auch im digitalen Bereich gefördert werden.

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, gilt ab dem 28. Juni 2025 neben allen öffentlichen Stellen, auch für juristische und natürliche Personen, also für Vereine, Verbände und die Privatwirtschaft. Es folgt den bekannten Standards in den Bereichen Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Das Gesetz gilt für bestimmte Produkte und Dienstleistungen, die ab dem 28. Juni 2025 in Deutschland verfügbar gemacht werden. Dazu gehören unter anderem Computer, TV-Geräte, Websites, mobile Anwendungen und Onlineshops. So muss ein Onlineshop eines Friseursalons, über welchen Pflegeprodukte gekauft werden können, barrierefrei gestaltet sein. Der Onlineauftritt muss auch dann barrierefrei sein, wenn ein Geschäft angebahnt wird, also wenn online Terminbuchungsoptionen angeboten werden. Kleinstunternehmen (weniger als zehn Beschäftigte und höchstens 2 Millionen Euro Jahresumsatz), die Dienstleistungen anbieten, sind vom Gesetz ausgenommen. Auf den Seiten der Bundesfachstelle Barrierefreiheit der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See findet sich zum einen das Gesetz und auch eine umfangreiche FAQ. Um die Einhaltung dieser Standards auf Webseiten öffentlicher Stellen zu überprüfen, gibt es Überwachungsstellen auf Bundes- und Landesebene. In Thüringen ist die Überwachungsstelle beim Finanzministerium angesiedelt. Sie führt den so genannten BITV-Test durch, der sicherstellt, dass Websites und mobile Anwendungen die 92 Prüfpunkte der Barrierefreiheit erfüllen, wie z.B. strukturierte Überschriftenhierarchie, Untertitel bei Videos oder auch Alternativtexte bei Bildern oder die Möglichkeit Webseiten auch ohne Maus oder mit alternativer Steuerung zu bedienen.

Wie sich Unternehmen jetzt schon vorbereiten können

Barrierefreiheit sollte bestenfalls von Anfang an mitgedacht werden. Eine nachträgliche Integration ist möglich, kann jedoch zeit- und kostenaufwendig sein. Unternehmen sollten sich aber auf jeden Fall mit digitaler Barrierefreiheit auseinandersetzen, da sie allen, und auch den Unternehmen selbst, zugutekommt. Sowohl die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) als auch die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) sind gültige Richtlinien und enthalten Hilfestellungen als auch eine Übersicht über die technischen Grundlagen und Anforderungen zur barrierefreien Gestaltung von Internetangeboten. 

Zudem ist es wertvoll, eine Sensibilisierungsveranstaltung zu dem Thema zu besuchen. Hierbei werden Erkenntnisse vermittelt, welche Bedarfe an Software oder Websites gestellt werden, um sie auch mit einer Behinderung oder in bestimmten Lebenssituationen nutzen zu können. Auch der Kontakt zur Landesfachstelle bezüglich des Netzwerks kann jederzeit aufgenommen werden. Generell ist es immer hilfreich, bei solchen Veranstaltungen und auch proaktiv mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen, um sich zu informieren, auszutauschen und auch, um gezeigt zu bekommen, wie mit Braille und Sprachausgabe gearbeitet wird. Im besten Fall werden Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsprozesse oder Testabläufe einbezogen, damit sichergestellt werden kann, dass die Anwendung nutzbar ist.

Kontakt

Thüringer Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderungen
Landesfachstelle für Barrierefreiheit in Thüringen Fachbereich Digitale Barrierefreiheit
Enrico Göbel
Tel: +49 (0) 361 57 31 18 000
internet@tlmb.thueringen.de

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